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Imagination als Öffnung

Für viele bildende Künstler im Osten, vor allem in der ehemaligen Sowjetunion, brachte die politische Wende eine Krise mit sich.
Plötzlich sollte all das in mühseligen akademischen Studien Gelernte nicht mehr gültig sein: statt des Zwangs zur genauen Wiedergabe der Wirklichkeit gab es nun den Zwang zur Auflösung des Gegenständlichen, den ungeschriebene Gesetze forderten.
Die oberflächliche Verwestlichung mancher Künstler ist ebenso ein Ausdruck dieser Krise wie das trotzige Beharren anderer Künstler auf den Dogmen des sozialistischen Realismus. Wie aber gerade diese Kriese für die Entwicklung eines eigenen Stils fruchtbar gemacht werden kann, zeigt das Werk des rußlanddeutschen Malers Roman R. Eichhorn (geb. 1948 in Perwomayka/Kasachstan). 

Der Künstler hat eine lange, gründliche Ausbildung in Moskau hinter sich: 1971-77 studierte er an der Surikow-Kunsthochschule. 1977-81 war er Meisterschüler bei den Professoren Kibrik und Wereiski an der Moskauer Kunstakademie. Bei seiner Ausbildung konzentrierte er sich ganz auf die Graphik; seine frühen Radierungen zeigen einerseits seine Fähigkeit, die Wirklichkeit exakt wiederzugeben, andererseits sein Bedürfnis, 
die Hintergründe dieser Wirklichkeit zu erfragen.

Dieses Bedürfnis hat den Künstler immer mehr zur Malerei geführt. Dabei ist es bezeichnet, daß unmittelbar auf den Durchbruch zur Malerei der Aufbruch in den Westen folgte: seit 1991 lebt der Künstler in Wiesbaden. 

Dieser Durchbruch brachte für den Künstler die Auflösung der strengen Liniarität mit sich: unabhängig von allem, was er gelernt hat, entwickelt er einen freien, lockeren Pinselstrich, der eine fein nuancierte Farbgebung ermöglicht. Und dennoch besteht das Besondere seines Stils gerade darin, daß durch diese Auflösung die bisherigen Erfahrungen nicht zerstört werden. In dem noch in Moskau entstandenen Bild "Auf-Bruch", in dem ein Fahrrad den Weg in den Westen symbolisiert, fährt die Gruppe der Familienbilder mit - die im Osten gemachten Erfahrungen gehen dem Künstler nicht verlohren. Im Gegenteil: die Distanz von der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit erleichtert es Eichhorn, die Gesetzmäßigkeit seiner Erfahrungen überhaupt erst sichtbar zu machen. Er zeigt in seinen Bildern, wie Erfahrungen überhaupt erst durch Phänomene wie Erinnerung und Imagination ermöglicht werden. 
Die Fähigkeit, die Vielfalt der äußeren Bilder zu ordnen, ist ja nur gegeben, weil wir in der Lage sind, innere Bilder zu entwickeln, in denen wir das Gesehene aufbewahren und die Möglichkeit eines Wiedererkennens schaffen. 

Die Auflösung der strengen realistischen Form dient Eichhorn dazu, diese inneren Bilder nach außen treten zu lassen. Das gibt gerade den Irrealen in Eichhorns Werk eine besondere Realität. So erscheinen etwa die Familienphotos, die in Eichhorns Werk immer wiederkehren, zugleich schattenhaft und höchst real, so wie wir unsere eigenen Familienphotos im Traum oder in der Erinnerung empfingen.
Viele Künstler arbeiten mit der Imagination, um sich phantastische Gegenwelten zu schaffen, die mit der konkreten Wirklichkeit nichts zu tun haben. Bei Eichhorn hingegen erscheint die Imagination stets als andere Seite der Wirklichkeit, als Antwort des Einzelnen auf konkrete Anstöße aus dem täglichen Leben. Collisio, das lateinische Wort für Zusammenstoß - es steht auch als Motto über den meisten von Eichhorns Bildern. Im Aufbruch wird bei diesem Künstler stets ein Bruch wahrgenommen und genau registriert, Gerade darum ist es typisch für ihn, daß er in Zyklen arbeitet: immer wieder zerstören konkrete Erlebnisse die Illusion einer ungebrochenen Wirklichkeit und stellen Fragen an den Künstler, die er stets von neuem zu beantworten sucht.
Dabei geht er stets vom Einzelnen aus, das er in kontinuierlichen Schritten mit dem Allgemeinen verbindet und ihm so Gleichnischarakter verleiht. So wird das Konkrete Wespennest, das Eichhorns Kinder bei einem Spaziergang gefunden und nach Hause getragen haben, immer mehr zum Symbol für das Leben in einer für Moskau so typischen Gemeinschaftswohnung, in der sich mehrere Parteien die Küche und die sanitären Anlagen teilen müssen. Das Leben in kleinsten Parzellen, die aufgeregten Zusammenstöße bei der Begegnung mit Artgenossen - das macht diese beiden Phänomene vergleichbar.
In den Parzellen dieses Wespennests schafft einzig die Imagination immer neue Durchbrüche und Durchblicke aus der Welt der Enge in einen weiteren Horizont. Die Öffnung in einem abgeschlossenen Innenraum als Einbruchstelle der Imagination - das ist ein ständig wiederkehrendes Motiv Eichhorns. Im Fenster, in der Tür, im Spiegel, im Fernsehgerät erscheinen Gestalten aus Kunst- und Familiengeschichte. Gestalten von Vermeer und Breugel ebenso wie die Gestalten der eigenen Ahnen, und oft erscheinen sie realer als die Figur des Künstlers selbst, der sich vor der Übermacht der Erscheinungen ins Imaginäre auflöst... Auch die Photographische Ahnengalerie erscheint als Öffnung in eine andere Welt. Stets aber ist die Öffnung nur einen Spalt breit - der Bruch zwischen beiden Welten bleibt bestehen.
Mit malerischer Kraft gestaltet der Künstler den Prozeß der Lichtbewegung als Vorgang, in dem sich die Gestalten der Imagination verdichtet und verflüchtigen. Dadurch aber gelingt es ihm, eine elementare Erfahrung ins Bild zu bringen, die von so vielen Menschen im Osten geteilt wird. Es ist die Erfahrung, das in der Welt des grauen Kollektivismus die eigenen inneren Bilder lebendiger sind als die Außenwelt des real existierenden Sozialismus. Diese Erfahrung überträgt Eichhorn auch auf die Phänomene des Kollektivismus im Westen: so wird das Wespennest zur allgemeinmenschlichen Symbol, und die abstrakte, aufgelöste Fläche erscheint zugleich als Wand, in der die Erinnerungsbilder als Öffnung erscheinen.