Mein Werdegang

Die Kunstschule – Das Surikow-Institut

Jedesmal, wenn ich meine alten Studentenarbeiten durchschaue, tauche ich wieder ein in das sorglose Leben eines Surikow-Studenten, eine Zeit grenzenloser Möglichkeiten, leichtsinniger Taten und beharrlichen Lernens. Nur wenige dieser Arbeiten haben meine zahlreichen Umzüge überstanden. Die für mich wertvollsten sind erhalten geblieben: Zeichnungen, Gemälde, aquarellierte Portraits, Aktstudien und Radierungen. Unwillkürlich werden auch Erinnerungen an die Lehrer wach, unter deren Anleitung diese Arbeiten entstanden sind.

Einige Bilder sind „Schülerarbeiten“ rein akademischer Natur. In anderen überwiegt das Experimentelle, der leidenschaftliche Wunsch, die eigenen Möglichkeiten zu erproben. Unvermeidlich ist natürlich sowohl der Einfluss der Alten Meister wie auch der eigenen Lehrer, die diese Suche inspiriert haben. Diese Arbeiten sind besonders zahlreich.

Ich bin stolz darauf, eine so gründliche Schule durchlaufen zu haben – mit dem intensiven Studium der Schätze der antiken Welt, der Renaissance, der russischen Kunst, also der überreichen europäischen Tradition der Bildenden Kunst. Diese Schule hat für eine verlässliche Widerstandskraft gegen die Verlockungen aller möglichen "Ismen" gesorgt und das wahrhaft Wertvolle zu erkennen gelehrt.

Die Schule vermittelt Können und solides Handwerk, sie bildet den Geschmack, aber man muss auch selbst an sich arbeiten, um wirklich Künstler zu werden. Wenn man in seinem Innern eine „gespannte Feder, eine innere Unruhe“ verspürt, hat man die Chance, ein solcher zu werden.

Folgende Regel ist mir aufgefallen: Je höher die Semester, desto „korrekter“, akademischer wurden meine Arbeiten. Das Programm der akademischen Ausbildung erlaubt keine Freiheiten. Und meine Diplomarbeit ist im Grunde ein „Denkmal“ dieser Schule. An dieser Arbeit ist von weitem zu erkennen, dass ich „in der Tat“ ein Absolvent des Surikow-Instituts bin und bei dem großartigen Künstler Prof. Jewgeni  Adolfowitsch Kubrik studiert habe. 

Die Perspektive

Mich interessierten in der Kunst nicht nur die von den großen Europäern erschaffenen Vorbilder, sondern auch die Bildgestaltung der Ikonen, der russischen Volkskunst, die alte Kunst Indiens, Japans und Chinas sowie die Kunst der vorantiken Welt. Ich interessierte mich für die zweidimensionale Darstellung der Welt, die Parallelperspektive und die umgekehrte Perspektive. In der Hochschule aber lernten wir das offiziell anerkannte System der von den großen Meistern der Renaissance entwickelten Fluchtpunktperspektive.

Nach einem Gedanken von W. A. Faworski (Vorlesungsreihe zur Komposition im Moskauer Wchutemas, zu deutsch Höhere Künstlerisch-Technische Werkstätten) wird der Raum auf drei verschiedene Weisen auf eine Fläche übertragen: auf die ägyptische, die griechische oder die byzantinische.

Der Raum und seine Transformation

Ich besitze eine Fotografie: ein kleines Mädchen steht vor einer spaltbreit geöffneten Tür und schaut neugierig durch den Türspalt. Was ist dort? Doch hinter der Tür ist es dunkel. Die Dunkelheit macht neugierig.

In der Dunkelheit liegt ein Geheimnis; und zugleich fürchtest du dieses Unbekannte, du hast Angst, aber wenn du erst dort bist, vergeht die Angst, es wird gemütlich, hier kann man sich verstecken. Als Kinder haben wir das auch gemacht.

Das blendende Licht dagegen bringt Klarheit, die Lösung des Rätsels, aber darin kann man sich auflösen, verschwinden.

Es flammt auf wie eine Explosion, und der Schatten flieht augenblicklich.

Wir überschreiten die Schwelle dieser Tür und „erblicken“ einen winzigen Raum mit Trennwänden, Vorhängen, Regalen und Schränken. Sie teilen zwei Zimmer von 30m² Größe in Esszimmer, Kinderzimmer, Gästezimmer, Arbeitszimmer und Schlafzimmer: Hier wohnt die Familie. Die Schränke sind aus Kisten und Möbelteilen selbst zusammengebaut, aber jeder Gegenstand hat seinen Platz: ob es sich nun um den Staubsauger, einen Eimer, Bücher oder den Kühlschrank handelt. Hinter der Tür einer Bretterwand befindet sich der Schlafplatz für das Kind. An den Wänden „leben" in Rahmen die Vorfahren, in Büchern und Reproduktionen die Helden aus Literatur und Malerei und im Fernsehen die Helden aus den Fernsehsendungen. Alles ist vertraut und gemütlich, umgibt einen eng und bietet Schutz. 

Aber dieser Raum kann sich plötzlich verändern. Und dann treten zu nächtlicher Stunde irgendwelche Wesen oder vielleicht auch ihre Schatten in wirren Reihen aus dem Fernseher heraus und formieren sich zu allen möglichen, unglaublichen Gebilden...

Vor dem „Zimmerfenster" (als solches dient die Reproduktion eines bekannten Gemäldes) trotten müde Jäger durch den Schnee und hinter ihnen mit hängenden Köpfen ihre Hunde. Der winzige Raum öffnet sich plötzlich ins Unendliche, ins Weltall: an die Stelle der Wände und der niedrigen Decke tritt der Nachthimmel mit seinen dahinfliegenden Wolken oder das weite Himmelsblau des Tages...

Und da sind auch die Bewohner: ein Mann, eine Frau und zwei Kinder sind von fernen Reisen nach Hause zurückgekehrt, haben die Koffer abgestellt, stehen im Eingang und betrachten diese gutmütige, von gedämpftem Licht beleuchtete Welt... Zwei kleine Zimmer in einer „Kommunalka“, einer Gemeinschaftswohnung für mehrere Familien. 

Diese Welt habe ich auf Papier übertragen. Einer Arbeit folgte die nächste. In Temperafarben sind die Zimmer, die spaltbreit geöffneten Türen, die Fotografien an den Wänden, und die erdachten und realen Sujets dargestellt, in denen Vergangenheit und Gegenwart sich mit dem Versuch, in die Zukunft zu sehen, durchdringen.

Und zuletzt trat daraus unerwartet ein Thema hervor, das sich später zu einer ganzen Reihe meiner malerischen Arbeiten entwickeln und der Anfang zu den Serien „Fragmente aus der Familienchronik“ und „Wespennest“ werden sollte.  

Mit diesem Gepäck an Gedanken und Ideen und meinem ganzen Hab und Gut fand ich mich durch eine Laune des Schicksals in Deutschland wieder. Als ob ich eine Tür geöffnet und... mich plötzlich in einem anderen, bis dahin unbekannten Raum wiedergefunden hätte.

Da ist es, das blendende Licht, das Klarheit bringt, in dem man aber verloren gehen, verschwinden kann. Eine zauberhafte, helle Welt mit ihrem Glanz der Reklameschilder und den Waren in ihren glitzernden Verpackungen. Ein Puppenhaus? Ist es hier gemütlich?

Neue und alte Themen

Nachdem ich mich nun in Deutschland befand und auf nichts Besonderes zu hoffen hatte, malte ich in der ersten Zeit Varianten meiner früheren Temperaarbeiten. Ich malte mit Ölfarben auf Leinwand. Das hielt mich aufrecht. Ich lebte in meinem gewohnten Raum, in meiner Zeit.

Ich versuchte Auftragsportraits zu malen. Ich hatte vor, mit Portraits und Landschaften meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Aber weit gefehlt. Es zeigte sich, dass ein gemaltes Portrait im Zeitalter der Fotografie keinen besonderen Wert darstellt. Den Realismus als Kunstrichtung betrachtete man hier als etwas Überwundenes, als ein Phänomen der Vergangenheit oder als mechanische Wiedergabe der sichtbaren Welt ohne jeden künstlerischen Wert. Ich fühlte mich als "Dinosaurier".  

Trotzdem malte ich weiter meine Variationen, war auf der Suche, besuchte Museen, Galerien, Ausstellungen...

1996 besuchte mich der Künstler Grigori Sokolow, ein alter Freund aus Moskau. Unsere gemeinsame Ausstellung im Wiesbadener Bellevue-Saal war sehr erfolgreich. Sokolow stellte Holzstatuen aus, ich zeigte meine Bilder aus der Serie „Fragmente aus der Familienchronik“. Die Stadt kaufte einige unserer Arbeiten an, die Presse berichtete positiv über die Ausstellung. Unser „phantastischer Realismus“ schien Anerkennung gefunden zu haben. Über das, womit ich mich in jener Zeit beschäftigte, berichtete Grigori in Moskau und teilte mir dies in einem Brief sehr wortgewandt und emotional mit:

"...er (Roman) malt nichts nach der Natur. Er sagt, dass brauche ich nicht! Aber vielleicht gibt es da gar nichts zu malen, und die Roman umgebende, wohlgeordnete Wirklichkeit kann ihm keine Motive liefern? In ihr gibt es keine geheimnisvollen, unverschlossenen Türen, krummen Stufen; keine entstellten, zerlumpten und schmutzigen Menschen oder andere legendenhafte Motive, die das Leben rätselhaft, unvollkommen und unfertig gelassen hat, die aber dem Leben Phantasien verleihen...

...Er ist jetzt Eichhorn! Seine Welt ist die Kunst, das geistige Leben! Dort kommt es nun zu Zusammenstößen. Und in dieser Persönlichkeit, in seiner Seele, die sich freimachen konnte von der Natur der Wirklichkeit, in ihr selbst haben sich geheimnisvolle Türen zu öffnen begonnen: Geheimverstecke, Denkmäler, Kellerräume des Unterbewusstseins.

Ihr Geheimnisse der sich schließenden Türen, ihr Geheimnisse der herausfallenden Türen, ihr Geheimnisse der in die Finsternis führenden Türen, ihr Geheimnisse der Türen, die dem Druck des Lichtes nicht standhalten!

Wie Türen sind die Rahmen geöffnet. Und die Helden alter Bilder treten hervor als Figuren neuer Fabeln und Rätsel. Das Paradies ist Schwärze, das endliche Leben ein heller Lichtstrahl geworden, der Adam und Eva für immer trennt? 

In kleinen Rahmen sitzen und stehen wie in stickigen Räumen, in Reihʻ und Glied die ausgeblichenen Vorfahren. Sie hüten ihr Geheimnis - das Geheimnis unserer Geburt."