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Roman R. Eichhorn. "Imagination als Öffnung"
Retrospektive

Mit der freundlichen Unterstütung von Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst und Kulturamt der Landeshauptstadt Wiesbaden ist das Buch jetzt auf Amazon


Gebundene Ausgabe: 200 Seiten
Verlag: Pro Business digital; Auflage: 1 (5. Februar 2018)
Sprache: Deutsch, Russisch

Roman Eichhorn. Die Kunst der Imagination

von Dr. Peter Lodermeyer, Kunsthistoriker

I.

1985, in dem Jahr, als Roman Eichhorn zusammen mit einigen Künstlerkollegen die Möglichkeit erhielt, das Kernkraftwerk auf der westkasachischen Halbinsel Mangyschlak zu besuchen und diese Erfahrung künstlerisch zu verarbeiten, war der Sozialistische Realismus – zumindest offiziell – noch immer die geltende Kunstdoktrin der Sowjetunion. Was Eichhorn davon hält, Kunst für politische Zwecke zu instrumentalisieren, zeigt in aller Deutlichkeit das Triptychon, das er bei dieser Gelegenheit anfertigte. Statt die Mitarbeiter des Kraftwerks als Helden der Arbeit zu feiern, malte er den Direktor als erschlafften, mit stumpfer, erloschener Miene schräg im Stuhl hängenden Greis und die Wissenschaftler als ratlos dreinblickende Figuren, hinter denen sich eine von einem Lichtblitz bedrohlich zerrissene Dunkelheit ausbreitet. Auf dem dritten Bild greift einer der Mitarbeiter, durch ein helles Licht am linken Bildrand alarmiert, zum roten Telefon. Es ist kein Wunder, dass diese höchst beunruhigenden Acrylgemälde niemals offiziell ausgestellt wurden. Ihre prophetische Kraft ist schon fast unheimlich: Nur ein Jahr später, am 26. April 1986, ereignete sich in einem anderen sowjetischen Kernreaktor mit Namen Tschernobyl, der Super-GAU.  

Der Lichtblitz, der in der Mittelachse des Bildes mit den vier Wissenschaftlern so jäh den Bildraum zerreißt wie eine stille Explosion, gehört zu den vertikal ausgerichteten Helligkeitsfeldern, die immer wieder im Werk von Roman Eichhorn in Form von Fenstern und Türen oder als rätselhafte, nicht genauer zu definierende Bild-Raumöffnungen auftauchen. Verena Flick hat dieses Motiv in ihrem Text treffend als „Einbruchstelle der Imagination“ bezeichnet. Imagination ist das zentrale Stichwort für die Kunst von Roman Eichhorn. Die Imagination, die Vorstellungskraft steht vermittelnd zwischen den beiden Polen des Realismus und der Phantastik, zwischen denen sich sein Werk bewegt. 

Das eingangs erwähnte Kraftwerks-Triptychon ist eines der frühen Beispiele für den Übergang Eichhorns von der Graphik, genauer gesagt, der Radierung zur Malerei. In der Malerei fand er ein flexibleres Medium, das es ihm erlaubte, seiner künstlerischen Vorstellungskraft mithilfe unterschiedlicher Stilregister Ausdruck zu verleihen. Doch bereits in seinen frühen Radierungszyklen ging es ihm immer wieder darum, die Abschilderung der Realität mit Vorstellungsinhalten zu überblenden, um ihr so eine weitere Dimension, eine geistige und emotionale Tiefenschicht mitzugeben. So charakterisiert er im fünfteiligen Zyklus „Mein Mangyschlak“ von 1980 diese Halbinsel am Kaspischen Meer dadurch, dass er neben den Zeichen moderner Zivilisation (wie Industrienlagen, Autostraßen, Touristengruppen und so weiter) als zweite, optisch dominierende Ebene immer wieder Motive aus der Vergangenheit, aus Kultur- und Naturgeschichte beigibt, sodass die Bilder mit historischen Reminiszenzen angereichert werden: mit Fossilien maritimer Lebewesen, die darauf hinweisen, dass das Gebiet vor Jahrmillionen auf dem Meeresgrund lag, mit arabischen Kriegern auf Kamelen oder mit der Figur des Malers und Dichters Taras Schewtschenko, der zwischen 1850 und 1857 nach Mandyschlak verbannt worden war. 

1981 entstand eine weitere neunsteilige Reihe von Radierungen, genannt „Tschingis Aitmatow lesend“. In jeweils drei vertikal übereinander gesetzten Registern entfalten die Blätter eine von träumerischer Stille und Ernsthaftigkeit getragene Schilderung der weiten Steppe Kirgistans und der Menschen, die dort leben. Die Geschichten des kirgisischen Dichter Aitmatow werden dabei keineswegs illustriert, sondern sind als dialogisches Gegenüber und als literarischer Hallraum für die Bilder zu verstehen. Wie sehr Realitätssinn und Imagination schon bei dieser frühen Arbeit ineinanderfließen, ist eindrucksvoll im mittleren Bildfeld des letzten Blattes „Abschied“ zu erkennen. Die schwarze Silhouette einer männlichen Rückenfigur und ein weißes Pferd bilden zusammen das kontrastreiche Hauptmotiv. Der in Aquatintatechnik gestaltete Hintergrund ist über und über mit weißen Flecken und Pünktchen übersät, die man realistisch als Schneegestöber, angesichts der offensichtlichen Todessymbolik des Blattes aber in überhöhtem Sinne auch als Übergang in den Kosmos, als überhell leuchtende Milchstraße deuten kann.

II.

Der künstlerische Wechsel von der Radierung zur Malerei stellt im Werk von Roman Eichhorn eine deutlichere Zäsur dar als die 1991 erfolgte Übersiedlung aus Russland nach Deutschland. Auf die Frage, ob dieser Schritt in die neue Umgebung schwer gewesen sei, antwortete der Künstler: Nein, eigentlich nicht, denn er lebe ja ohnehin in seiner eigenen Welt, und so sei es auch nicht so wichtig, wo er seinen Wohnort habe. Dass sich Eichhorns Arbeiten primär aus seiner eigenen inneren Welt der künstlerischen Imagination speisen, ist der Grund dafür, dass sich sein Werk nach 1991 keinesfalls in die Kategorien der westlichen Malerei einordnen lässt. Es bewahrt sich auch in Deutschland seine eigenwillige, einzelgängerische Qualität. Passenderweise hat Eichhorn kurz vor und kurz nach seiner Übersiedlung eine Reihe von Temperabildern auf Papier, später auch kleinere Ölbilder  geschaffen, die sich mit den Themen von Innerlichkeit und Häuslichkeit beschäftigen – Arbeiten, die mit dem Motiv der Familienfotos an den Wänden und den Anspielungen auf Kunstwerke älterer Zeiten (zum Beispiel eine pompejanische Nymphe, Vermeers „Briefleserin“ oder Bruegels „Jäger im Schnee“) zugleich von Vergangenheit, Tradition und Erinnerung handeln. 

Was Eichhorn in die Malerei übernommen hat, ist die bereits bei den Radierungen zu beobachtende Tendenz, in thematischen Bildreihen zu arbeiten. Je nach der Thematik dieser Reihen variieren die stilistischen Mittel zum Teil erheblich: Zuweilen sind die Bilder näher am Realismus, dann wieder von märchenhafter, beinahe surrealer Anmutung; mal ist die Malweise detailliert und vielschichtig, darauf wieder von offener, dynamischer Art und in manchen Teilen sogar abstrakt. Es sind sehr unterschiedlichste Themen und Motive, die Eichhorn zu einer Bildreihe anregen können. Es ist hier nicht möglich, alle seit der Übersiedlung nach Deutschland entstandene Werkreihen zu besprechen. Ein paar Beispiele mögen genügen. Ein unscheinbares Objekt wie ein altes, verlassenes Wespennest kann plötzlich die Vorstellungskraft des Malers beflügeln und zur Metapher für vielfältige Aspekte des menschlichen Zusammenlebens werden. Die Waben des Wespennests werden als die Zimmer eines Hochhauses imaginiert, als Gemeinschaftswohnungen gedeutet oder stehen für die ganze bewohnte Erde. Selbst der Fernseher wird zur Wabe, die von der Außenwelt in die Interieurs der einzelnen „Wohnwaben“ himeinreicht. Die Ambivalenz von physischer Nähe und innerer Fremdheit der Menschen, von sozialem Zusammenhalt und Anonymität, ebenso die Entfremdung in der Arbeitswelt und auch die Unheimlichkeit klandestiner Zusammenkünfte und Machtstrukturen (im Bild „Abendmahl“ von 1996) – all das kann Eichhorn mithilfe dieser Metapher des Wespennests thematisieren. In seinem 2002 gemalten „Engel und Fabelwesen“ wird das Nest zudem zu einem metaphysischen Schauplatz, auf dem gute und böse Mächte miteinander ringen.

Immer wieder tauchen in Eichhorns Bilderreihen Figuren auf, die aus anderen Wirklichkeitsbereichen, aus Märchen und Mythen oder aber aus der Vergangenheit zu stammen scheinen. Das gilt zum Beispiel für die „Mystischen Salons“ von 2006/07, wo Frauen in festlichen Roben früherer Jahrhunderte paradieren. So prachtvoll die Kleider, so entindividualisiert, ja puppenhaft leblos erscheinen die Gesichter der Damen. Das Rätselhafteste an dieser Serie aber sind die kleinen schwarzen Männchen, die, anscheinend unbemerkt von den Damen, elfenhaft zwischen den Figuren herumturnen und an den Kleidern hantieren. Wie aus einer anderen Realitätsebene wirken auch die ebenfalls schwarzen Gesichter und Rümpfe, die in der „Archetypen“-Reihe auftauchen, die in dem langen Zeitraum zwischen 2001 und 2014 entstand. Mit ihren strengen, aus weißen Linien stilisierten Gesichtszügen erinnern sie an antike Masken. Wie Beobachter aus einer anderen Welt tauchen sie auf, betrachten die Frauen und Mädchen, verfremden die ohnehin märchenhaften Szenerien oder schweben schwerelos durch die verzaubert wirkende Flora in „Die Götterblume“.

Selbst wo Eichhorn reale Orte malt, lässt er es sich nicht nehmen, sie mit allerlei fantastischen Bildmotiven anzureichern. So hat er zum Beispiel seine Wahlheimat Wiesbaden unter dem alten, auf die römische Stadtgründung zurückgehenden Namen „Wisibada“ in drei Bildern festgehalten. Mit dem Gemälde „Russische Kapelle“ von 2012 stellt er eine Verbindung zu seinem Geburtsland her. Von der Grablege der frühverstorbenen Großfürstin Elisabeth Michailowna Romanowa steigt als zarte, immaterielle Lichterscheinung die Silhouette der Russischen Kapelle auf dem Neroberg auf, die Elisabeths Ehemann, der Herzog Adolf von Nassau, zu ihrem Gedenken hat erbauen lassen. Im Gegensatz zu dieser historischen Architektur steht das Römertor, das Eichhorn im geheimnisvoll gedämpften Licht der totalen Sonnenfinsternis vom 11. August 1999 dargestellt hat. Im „Tempel Wisibada“ feiert Eichhorn die alte Kurstadt Wiesbaden, indem er, gerahmt von einem Panoramablick auf die Stadt, zwischen den Säulen des Monopteros auf dem Neroberg einen Roulettetisch ausbreitet, dessen grüner Belag unmerklich in eine Wiese übergeht. Auf der wiederum steht ein Jungbrunnen, in dem und um den herum sich ausgelassen allerlei nackte Frauengestalten unterschiedlicher Hautfarbe tummeln.

III.

Ach ja, die Frauen... Frauenschönheit ist ein Leitmotiv, das sich durch Eichhorns gesamtes künstlerisches Werk zieht, angefangen mit den zahlreichen Aktzeichnungen der frühen 1980er-Jahre, wo er den weiblichen Körper mit unzähligen Bleistiftstrichen umspielt und so in weicher Modellierung erstehen lässt. Ein humoristischer Umgang mit der Thematik ist die Reihe der miniaturhaft kleinen „Figuren“, wo Eichhorn weibliche Formen sowohl in den klassischen Spielkartenfarben Karo, Herz, Pik und Kreuz, als auch in den unterschiedlichsten Insektenleibern und Architekturfassaden entdeckt.  Sinnliche Frauenakte finden sich in vielen Bildreihen, so etwa die rothaarige Schöne, die in einem riesigen Wasserkessel ein „Dampfbad“ (2005) nimmt, oder „Dieses Mädchen!“ von 2014, das in selbstbewusster Sinnlichkeit, beobachtet von den schwarzen „Archetypen“-Gesichtern, zwischen einer Priester- und einer Nonnenfigur posiert. Das Thema Frauenschönheit wird in der Reihe der „Vier Grazien“ am ausführlichsten bearbeitet. Das traditionelle, aus der Antike bekannte und in der europäischen Kunst seit der Renaissance immer wieder aufgegriffene Motiv der drei Grazien –Göttinnen der Anmut und der Schönheit – hat Eichhorn um eine vierte Figur erweitert und vor allem von ihrem eurozentrischen Schönheitsideal befreit. Die vier Frauen zeichnen sich durch unterschiedliche Hautfarben und Körperschemata aus und repräsentieren somit die verschiedenen Völker und Kulturen der Welt. Der Schönheit und Sinnlichkeit der Frauenfiguren entspricht die der Malerei selbst, was sehr gut in dem frühen Bild von 2006 sehen ist, wo der Hintergrund in einem prachtvollen Dunkelblau gehalten und die Zwischenräume zwischen den Frauenfiguren von farbsatten, abstrakten Farbformen belebt ist. In die mit 150 mal 200 Zentimetern größte Variante von 2017 hat sich Eichhorn selbst hineingemalt. Als lange dünne Malerfigur schwebt er im Bild, gerade damit beschäftigt, die Konturen der asiatischen Schönen zu vollenden. An der Kleinheit des Selbstportraits lässt sich ermessen, wie groß die Bewunderung des Künstlers für sein Sujet ist.